Heidrun Eberl im Gespräch mit Florian Marignol, Bariton, in der Rolle des Gaveston
Wer ist Gaveston? Was denkst du, ist seine Lieblingsbeschäftigung?
„Gaveston ist für mich ein Mann, in dem ein guter Kern steckt, genau wie in den anderen Protagonisten. Er findet sich auf der ‘bösen’ Seite wieder, ohne sich das richtig ausgesucht zu haben. Nach dem Tod der Grafen von Avenel kümmert er sich um Anna, die jene adoptiert hatten, und er nimmt sich des Schlosses an, als wäre es sein eigenes Haus. Da Anna seine Autorität und seine Ansichten nicht immer gefallen, ist der Kontakt zwischen beiden schwierig geworden, zumal Gaveston eine Schwäche für sie hat: Sie ist die einzige Person, mit der er richtig in sozialem Kontakt steht. Er ist der Wächter des Schlosses, seit die ehemaligen Besitzer ihn eingestellt haben, und deswegen möchte er es bis zu seinem Tod besitzen.
Seine Leidenschaft sind die Jagd und die Taxidermie [Ausstopfen und Sammeln von Tieren]: Das Schloss ist der ideale Ort für die Ausstellung seiner Trophäen. Er teilt auch sehr oft und stolz seine Leistungen mit Anna, die diese Barbareien aber kaum ausstehen kann.“
Hat es einen besonderen Reiz den ‚Bösen‘ darzustellen?
„Ich sehe Gaveston nicht als einen bösen, sondern als einen glücklosen Menschen, der den Platz in der Gesellschaft, den er eigentlich verdient, nicht bekommt. Das bereitet ihm Wut und ein tiefsitzendes Gefühl von Ungerechtigkeit. Beim szenischen Erarbeiten dieser Rolle inspirieren mich verschiedene Facetten Gavestons: Er ist stolz und selbstbewusst; herrisch – er fühlt sich den anderen überlegen; und heftig, was sich vor allem in den Gesten und Blicken von Ärger äußert. Solche extremen Emotionen empfindet man nicht tagtäglich! Diese Rolle zu verkörpern bedeutet für mich auch das Vergnügen, jemand anderer sein und einen starken Charakter darstellen zu können. Gaveston ermöglicht mir, neue Interpretationsmittel zu erforschen, insbesondere die Möglichkeit, meine eigenen Grenzen ungezwungen überschreiten zu können.“
Hast du eine Lieblingspassage als Gaveston?
„Nein, eine Lieblingsstelle habe ich nicht, weil ich alle Einsätze von Gaveston gerne singe. Zum Beispiel mag ich das Terzett mit Margarethe und Anna gern, das Gaveston als eine dunkle und kalte Figur vorstellt. Außerdem ist der intime Teil „Ô Ciel“ – für mich die Arie Gavestons – der Höhepunkt, der seine Niederlage und seine innerliche Wut zeigt. Schließlich stellt das zweite Finale, in dem alle Stimme sich mischen, nach meinem Ermessen den Kulminationspunkt aller Emotionen dar.
Die Dame Blanche ist nicht mehr sehr bekannt und wird – auch in Frankreich – so gut wie gar nicht gespielt. Das ist bedauerlich, weil sie so viele gefällige Aspekte hat, die es so lohnenswert macht sie zu interpretieren und zu inszenieren. Das einzige, was ich bedaure, ist, dass es keine Arie für Gaveston gibt – aber offensichtlich ist diese Oper eher für die Tenöre geschrieben worden!
Danke an das JORM-Team, dass wir dieses vergessene wunderbare Werk wiederentdecken können!“
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